Die CEP, die Confederation of European Probation, veröffentlicht Erfahrungsberichte von
Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern aus ganz Europa. Wir freuen uns darüber, dass der Beitrag unserer Kollegin Xenia
Hermann in der Reihe „Day in life of a probation officer“ erscheinen kann. (https://www.cep-probation.org/day-in-a-life-of-probation-officer-xenia-hermann/)
Ist der Tag einer Bewährungshelferin/ eines Bewährungshelfers in Deutschland ähnlich dem eines in Rumänien
tätigen? In der Reihe „Ein Tag im Leben eines Bewährungshelfers“ veröffentlichen wir Artikel, die von
Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern aus verschiedenen Ländern in Europa geschrieben wurden, um zu sehen, ob ihre
Tage ähnlich oder ganz unterschiedlich sind. Dieser Artikel wurde von Xenia Hermann, einer Bewährungshelferin aus Rottweil,
Deutschland, verfasst.
Mein Name ist Xenia Hermann und ich arbeite seit ungefähr 3 ½ Jahren als Bewährungshelferin. Dank der Tatsache, dass
ich 30 Jahre alt und eine Frau bin, sehen die Reaktionen auf meinen Beruf in meinem sozialen Umfeld oft ähnlich aus. Lerne ich
neue Leute kennen, haben die meisten von ihnen genau eine Frage und eine bestimmte Hypothese.
Die Hypothese lautet: „Dein Job muss unfassbar aufregend sein! Dir begegnen so viele
Menschen, da sind so viele Geschichten.“
Die Frage ist immer: „Hast du keine Angst?“
Lasst uns mit der Hypothese beginnen, welche für mich vollständig zutrifft. Sie zeigt sich schon allein in der Altersspanne
der Menschen, mit denen ich arbeiten darf:
Die Strafmündigkeit beginnt in Deutschland mit 14 Jahren, somit sind meine jüngsten Klientinnen oder Klienten 14 Jahre alt
– eine Altersgrenze nach oben hin gibt es nicht. Der älteste Klient, mit dem ich zusammengearbeitet habe, war 72 Jahre alt
und auf Bewährung wegen räuberischen Diebstahls. Das Delikt klingt zunächst wilder, als es tatsächlich war –
er stahl in einem Medienfachmarkt ein Telefonkabel (Wert: 10 Euro) und versuchte davonzulaufen, als er vom Ladendetektiv erwischt
wurde.
Meine Klientinnen und Klienten sind überwiegend männlich, sie sind aber auch weiblich. Betrachte ich die Gesamtzahl der mir
unterstellten Personen, würde ich schätzen, dass ungefähr 10% von ihnen Frauen sind. Ihre Bedarfe, Biografien und
Gründe, straffällig zu werden, unterscheiden sich häufig von denen meiner männlichen Klienten, am
Ende zählt jedoch immer die individuelle Geschichte jedes und jeder einzelnen.
Die Delikte, wegen derer Menschen zu Bewährungsstrafen verurteilt oder vorzeitig aus der Haft entlassen werden, reichen von
kleineren Taten wie Diebstahl oder Erschleichen von Leistungen bis hin zu schweren Straftaten wie Sexualdelikten, gefährlicher
Körperverletzung oder Mord. Zudem begegnen mir Drogendelikte in der Bewährungshilfe
außergewöhnlich häufig.
Als in unserer Supervisionsgruppe die Frage „Was hilft dir, die Motivation in diesem Feld nicht zu verlieren?“ aufkam,
antwortete eine ältere und erfahrenere Kollegin, dass sie es liebe, als Bewährungshelferin nie den Punkt zu erreichen, an
dem sie alles wisse und auf alles eine Antwort habe. Man werde immer wieder aufs Neue herausgefordert zu lernen und
gewohnte Perspektiven zu überdenken, auch und vor allem nach Jahrzehnten in diesem Berufsfeld. Ich glaube, ich teile ihre
Sichtweise. Es wird immer Geschichten und Situationen geben, die sich ins Gedächtnis brennen.
Als ich meine Stelle als Bewährungshelferin antrat, war eine meiner ersten Klientinnen ein junges Mädchen mit einer
Drogenproblematik. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, ordnete das zuständige Gericht monatliche Drogenscreenings an. Damals
noch unwissend, wie die formellen Prozesse in unserem Bezirk abliefen, meldete ich sie recht blauäugig zu einem ersten
Screening in der benachbarten Arztpraxis an. Ich war überrascht, als sie mich kurz darauf anrief: „Ich bin fertig mit dem
Screening. Sind Sie gerade im Büro? Kann ich den Becher mit meinem Urin schnell vorbeibringen?“ Zu meinem Glück war
eine Kollegin an diesem Tag im Büro nebenan und so konnte ich sie fragen, wie man die Übermittlung der Ergebnisse
von Drogenscreenings normalerweise handhabte. So konnten wir gerade noch vermeiden, dass meine Klientin den Becher mit ihrem Urin
bei mir im Büro vorbeibrachte und vor allem ging so die Ehre an mir vorbei, die Probe als Nachweis ans Gericht weiterzuleiten,
dass sie die Weisungen ihrer Bewährung mehr als ernst nahm.
Das ist eine der lustigen Alltagsgeschichten. Da sind so viele mehr, die weitaus tragischer sind. Eine von ihnen ist die Geschichte
eines jungen Mannes, der im Jahr 1986 geboren wurde. Ich übernahm seine Bewährungsbetreuung, nachdem sein ehemaliger
Bewährungshelfer in den Ruhestand ging. Die Bewährung verlief alles andere als positiv, er hatte
unzählige Drogenrückfälle und beging auf Grundlage seiner Abhängigkeit wiederholt neue Straftaten.
Schließlich verhängte das Gericht eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung, aus der er nach einem weiteren Jahr entlassen
worden ist. Als er nach der einjährigen Inhaftierung zum ersten Gespräch zu mir kam, war er clean und voller Pläne und
Ambitionen. Er wollte die mittlere Reife nachholen. Ich fragte ihn, in welchem Beruf er gerne arbeiten möchte, und als er
darauf zunächst keine Antwort fand, fragte ich ihn, was er als Kind gerne gemacht hatte – ich glaube fest daran, dass
man in den Aktivitäten, denen man als Kind gerne nachging, nicht selten die eigene Bestimmung oder zumindest einen ersten
Anhaltspunkt findet, in welche Richtung es auch heute beruflich gehen könnte. Er liebte es, draußen zu arbeiten. Und er
liebte die Arbeit mit Tieren (später stellte ich mir die Frage, ob der Grund dafür war, dass Tiere ihn nie
so enttäuscht hatten wie die Menschen in seinem Umfeld).
Er ging. Nach diesem Gespräch war ich für zwei Wochen im Urlaub, es war der Sommer im Jahr 2020. Als ich zurückkehrte,
rief mich ein Kollege aus dem ambulant betreuten Wohnen an. Er informierte mich, sichtlich gerührt, über den Tod meines
Klienten. Als der junge Mann die lange erwartete Rückzahlung von der örtlichen Arbeitsagentur erhalten hatte, hatte er einen
massiven Drogenrückfall erlitten und setzte sich eine Überdosis Heroin. Bis heute stelle ich mir die Frage, ob sein Tod ein
Unfall war oder ein Suizid, weil er letztlich doch aufgegeben hatte. Er wurde in einem anonymen Grab in den Wäldern beigesetzt, seine
Mutter organisierte seine Beerdigung ungewöhnlich schnell – weil sie in so großer Trauer war, sagte sie. Er hatte mir zuvor
wiederholt erzählt, dass sie sich nie für ihn interessiert hatte, zumindest nicht, als er noch lebte. Mein Klient starb im Alter
von 33 Jahren, einige Wochen vor seinem 34. Geburtstag. Das ist eine der tragischen Geschichten, an die ich mich stets erinnern
werde.
Die zweite Frage, die mir Menschen immer stellen („Hast du keine Angst?“), ist für mich simpel zu beantworten:
Ich habe keine Angst, denn hätte ich welche, könnte ich meinen Job nicht machen. Zumindest nicht gut. Ich habe jedoch andere
Fähigkeiten entwickelt und vertieft und ich glaube, dass die Menschen auch sie meinen, wenn sie die Angst-Frage stellen. Was ich bin,
ist wachsam. Ich nehme nicht nur wahr, was Menschen sagen, sondern auch, was Gestik und Mimik mitteilen. Ich bin empfänglich
dafür, wenn sich im Dialog die Stimmung verändert. Ich vergesse die Biografien und Hintergrundgeschichten meiner Klientinnen und
Klienten nie. Es gibt Klientinnen bzw. Klienten, die lade ich nur zum Gespräch ein, wenn ich weiß, dass ich nicht allein im
Büro bin. Denn am Ende muss man sich als Bewährungshelferin oder Bewährungshelfer immer bewusst sein, was unser Feld so
besonders macht und warum. Beide – Klientin/ Klient und Bewährungshelferin/ Bewährungshelfer – agieren in einem
Zwangskontext, was bedeutet, dass auch beide nicht mal eben aus diesem aussteigen können. Das bringt große Herausforderungen mit
sich, aber auch positive Aspekte. Beziehungen zwischen Klientin oder Klient und Bewährungshelferin oder Bewährungshelfer sind
professionelle Beziehungen, aber am Ende sind und bleiben auch sie Beziehungen – nicht selten die ersten, in denen meine Klientinnen
und Klienten die Erfahrung machen dürfen, dass da jemand ist, der nicht einfach geht und sie aufgibt.
Alles in allem bedeutet Bewährungshilfe für mich immer wieder die Balance in einem Feld voller Ambivalenzen und Dualität zu
finden. Manchmal macht das Spaß. Manchmal ist es tragisch. Am Ende des Tages glaube ich fest daran, dass es immer jemanden gibt,
für den unsere Arbeit den entscheidenden Unterschied macht.
Erfahren Sie hier mehr über die Arbeit in der
Bewährungshilfe.